Familiennachzug: Nur eine kurze Geschichte

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Vor mir liegt ein müder Passagier, eingedeckt in eine Airline-Decke, auf drei freien Sitzen. Die beiden Plätze neben mir sind ebenfalls frei. Ich überlege mich quer zu legen und zu schlafen. Seit mehr als 36 Stunden wach und seit 10 Stunden unterwegs. Zurück nach Hause. Ich bin müde.

Dennoch entscheide ich mich für die simplere Variante: Ich kippe meinen Flugzeugsitz nach hinten. Auf Nachfrage versichert mir mein hinterer Sitznachbar, dass es kein Problem sei. Ein ruhiger Mann, mittleren Alters, mit Dreitagebart und blassen Augen. Er sieht verloren aus.

Ich finde ein paar Momente Schlaf, nicht genug. Schon bald werden wir von der Schwerkraft während des Landeflugs in die Sitze gedrückt. Ich muss meinen Stuhl wieder aufrichten und bin wach.

Mein hinterer Sitznachbar beugt sich zu mir vor und fragt, ob ich deutsch spreche. Auf Arabisch. Ich bejahe. Ob ich ihm helfen könne. Er habe ein Visum und Angst an der Kontrolle mit fragen gelöchert zu werden. Weder Englisch noch Deutsch spricht er. Ich helfe ihm gerne, aber: „Mein Arabisch ist nicht so gut. Aber wir versuchen es.“ Beruhigt lehnt er sich zurück und wir landen.

Es ist ihm fast peinlich noch einmal zu fragen, als wir in der Hektik der Landung unser Handgepäck aus den Fächern hieven: „Gehen wir gemeinsam zur Kontrolle?“

Ja, ich werde mit ihm gehen. Zwischen dem „hamdulillah ala salama“ der Stewardess und dem Ausstieg verlieren wir uns kurz aus den Augen. Ich warte auf ihn und erleichtert holt er mich ein. Ein Bein zieht er immer etwas hinter her, leicht humpelnd hält er trotzdem mit mir Schritt.

Ob er aus Ägypten sei, wo wir gerade losgeflogen sind, frage ich. Nein, er ist Syrer. So langsam dämmert es mir. Von Syrien, über Libanon nach Ägypten und jetzt nach Deutschland, Frankfurt. Seit 3 Tagen ist er unterwegs. Er ist müde.

Mahmoud heißt er. Jura hat er studiert in Syrien und in einer Bank gearbeitet.

Nicht wie sonst, stelle ich mich in der Passkontrolle in die Reihe, über der das Schild „Alle Pässe“ prangt. Ein sehnsüchtiger Blick geht Richtung „EU Bürger“. Routiniert arbeiten die Polizeibeamten die EU Pässe ab. Es läuft reibungslos. Wir jedoch warten geduldig. Die Schlange ist lang. Währenddessen erfahre ich, dass meine neue Begleitung nach Mainz weiterreisen möchte. Seine Frau und Tochter leben bereits dort.

Vor uns eine Familie aus dem Libanon. Drei Töchter. Unendliche Fragen. Wo sie hinwollten. Wie viel Geld sie dabei hätten. Zu wem sie wollten. Ob sie eine Krankenversicherung hätten. Und ein Rückflugticket. Ich suche bereits nach dem arabischen Wort für Krankenversicherung, falls uns dieselbe Frage gestellt wird. Ihnen fehlt das Rückflugticket und das nötige Geld sofort eines zu buchen. Ein weiterer Grenzpolizist kommt und begleitet sie zur Wache. Sie dürfen nur weiterreisen, sobald sichergestellt ist, dass sie auch wieder in ihr Land zurückkehren.

Mein syrischer Begleiter wird nervös. Er beobachtet genau, was vor uns geschieht. Auch er hat kein Rückflugticket. Seine Hände schwitzen. Er zeigt mir sein Visum, versichert mir, die Botschaft habe ihm gesagt, er brauche kein Rückflugticket. Ich beruhige ihn. Es wird schon alles gut gehen. Bald sind wir dran. Wir vereinbaren, er geht vor, falls er Hilfe braucht, komme ich sofort nach.

Der Grenzbeamte spult sofort seinen Fragenkatalog ab: Wo will er hin? Zu wem? Wie viel Geld hat er dabei? Überfordert und hilfesuchend ist sein Blick. Ich komme hinzu, erkläre, dass er nur arabisch spricht. Der Beamte ist dankbar, dass ich zumindest bruchstückhaft übersetzen kann. Nach Mainz möchte er, zu seiner Frau und seiner Tochter. Nein, Ein Rückflugticket hat er auch nicht. Wohin auch?

Ein zweiter Blick in seinen Pass zeigt: Familiennachzug.

Mahmoud darf die Kontrolle passieren. Ein helles Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus und seine Augen wirken nicht mehr ganz so blass.

„Ich warte auf dich“, sagt er und überschreitet leichtfüßig die Linie, die so viel für ihn bedeutet und für mich immer nur ein weißer Strich auf grauem Untergrund gewesen ist.

Ein flüchtiger Blick des Grenzpolizisten in meinen Pass reicht aus, um mich durchzuwinken und sich noch herzlich bei mir für die Hilfe zu bedanken. Das ist neu für mich. Sonst bedanke ich mich immer.

Mahmoud wartet tatsächlich auf mich, seine schmale Puma Tasche als Handgepäck im Arm. Nur noch die Kofferausgabe und dann haben wir es hinter uns. Die Kofferbänder bereits vor uns, aber noch stehen sie still.

Plötzlich lässt er seine Tasche fallen. „Da sind meine Frau und meine Tochter.“ Während ich mir noch Gedanken darüber mach, wie die beiden es geschafft haben, bis zu den Kofferbändern zu gelangen, nimmt er seine Frau in den Arm. Dann seine Tochter. Lange und fest. Sein Gesicht wird rot, während er seine Tochter an sich drückt. Kurz lässt er sie los. Nimmt sie wieder in den Arm. Immer wieder.

Ich stehe daneben. Schlucke Tränen hinunter. Seine Frau begrüßt mich, nimmt auch mich in den Arm, spricht ein Gebet für mich. Dass Gott mir das Paradies erleuchten möge. Ich gebe es auf, die Tränen hinunterzuschlucken. Mahmoud strahlt. Seine Tochter noch immer im Arm, liegt seine Tasche irgendwo vergessen im Gang. Alles nicht wichtig.

Ich sammle meine Koffer ein und verabschiede mich von der kleinen Familie. Ich wünsche ihnen so viel und wünsche ihnen mit Worten doch nur alles Gute.

Familiennachzug. Es ist nicht mehr nur ein Wort für mich. Es ist ein Gefühl. Ab heute.

Ein Gedanke zu “Familiennachzug: Nur eine kurze Geschichte

  1. In Zeiten degenerierter Emotionen holt uns diese Realität wieder zurück zu unserer Menschlichkeit und lässt uns wieder fühlen, wie Gott uns erschaffen hat – rein, barmherzig, mitfühlend. Sind wir genug dankbar für das, was wir haben? Kennen wir noch Leid und Schmerz? Wissen wir, wie sich Trennung anfühlt?

    Und welche Rolle spielt unser Prophet (s.a.w.) in diesem Kontext? Denken wir doch mal darüber nach, welches Leid und welche Schmerzen er über sich ergehen lassen musste, obwohl er der vollkommenste Mensch und der Liebling Gottes ist…

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