Unsichtbar

Manchmal bin ich traurig.

Ich bin traurig,
wenn ich deutschen Städten, Häuser und Moscheen brennen.
Wenn Parteien mit dem Slogan „Islamfreie Schulen“ auf Stimmenfang gehen
und Bürgermeisterkandidaten nach den Vornamen deutscher Straftäter fragen, in der Hoffnung sie lauten Abdelkarim, Suheib und Tariq.

Ich bin traurig,
wenn meine Schwestern, länger darüber nachdenken, ob sie ihre Bewerbung mit oder ohne Foto versenden sollen, als sie Zeit darauf verwenden ihre Bewerbung selbst zu schreiben.
Und wenn sie eingeladen werden, erklären müssen, dass ihre Kleidung keine Unterdrückung ist, sondern freie Wahl – und ein bisschen Mode.

Ich bin traurig,
wenn in der Schule über den 11. September, Afghanistan und den Iran gesprochen wird und meine Brüder erklären sollen, warum ihre Religion intolerant und gewalttätig ist.

Ich bin traurig,
wenn es wieder irgendwo heißt, dieser Islamist hätte früher erkannt werden müssen, denn „er ging regelmäßig in die Moschee und spendete“.
Ich bin auch traurig,
wenn auf der Deutschen Islam Konferenz Blutwurst serviert wird.

Und manchmal habe ich Hoffnung.

Ich habe Hoffnung,
wenn meine Schwestern für ihre Rechte in der eigenen Gemeinde, im Gericht und im Boxring kämpfen – und gewinnen.
Ich habe Hoffnung, wenn eine Freundin mir etwas zum Opferfest schenkt und ich ihr zu Weihnachten. Ich habe Hoffnung,
wenn an Lebensmitteln neben dem kleinen V für Vegan ein kleines H für Halal ausgeschildert ist.
Ich habe Hoffnung,
wenn ich meinen Chef um Befreiung für unsere muslimischen Mitarbeiter:innen zum Fest des Fastenbrechens bitte und er dem ganzen Team frei gibt.
Weil es doch ein Anlass zur Freude für uns alle sein kann.
Ich habe Hoffnung,
wenn meine Geschwister aufhören können, über Frauenrechte und Gewalt im Islam zu sprechen, sondern anfangen Ruhe und Inspiration in ihrer Religion zu finden.

Und manchmal wenn ich Hoffnung habe,
dann bin ich mutig.
Und wenn ich mutig bin,
dann träume ich von einer neuen Normalität.

Dann habe ich einen Traum,
Keinen Traum in Schwarz-Weiß,
sondern Live und in Farbe.

Dann habe ich einen Traum,
davon dass niemand mehr fragt, ob der Islam zu Deutschland gehört,
dass am Ortseingangsschild die Uhrzeiten der Gottesdienste für Jumuah, Shabat und Sonntag stehen, dass irgendwann deine Tochter nach Hause kommt und von ihrer Mathelehrerin erzählt und vor lauter Begeisterung vergisst zu erwähnen, dass sie ein Kopftuch trägt.
Ich habe einen Traum,
dass ich darüber nachdenken kann, mir in Brandenburg ein Haus zu kaufen, weil die Natur dort schön ist.
Davon dass mein kleiner Neffe Polizist werden will, weil er Freund und Helfer für alle sein möchte. 

Ich habe einen Traum,
unsichtbar zu sein,
während ich sichtbar bin.
Ich habe einen Traum,
dass Du nicht mein Tuch sondern mein Gesicht siehst,
mein Wort hörst,
meine Talente erkennst,
meine Taten bemerkst,
meinen Schmerz und meine Freude fühlst.

Wennn ich mutig bin,
dann habe ich einen Traum,
dass wenn ich Brüder und Schwestern sage,
wir alle gemeint sind,
Menschen, wie Du und Ich.

(Dieser Text wurde vorgetragen anlässlich des Evangelischen Kirchentags in Nürnberg, 10.6.2023, Maryam Kamil Abdulsalam)